Leonardo Calossi

Rede von Leonardo Calossi anlässlich der Vorstellung des Buches »Anmerkungen zu einer Internierung in Deutschland 1943–45« am
13. März 2003 in der Rathausdiele in Schweinfurt


CC65»Die Rückkehr an den Ort, an dem sich ein Teil meines Schicksals als Militärinternierter oder Kriegsgefangener, wie auch immer man es nennen möchte, ereignet hat, hat mich sehr bewegt – auch nach so langer Zeit. Tausende Erinnerungen sind mir ins Gedächtnis gerufen worden.

Ich hätte nie gedacht, dass ich Schweinfurt und Franken in diesem Alter noch einmal wiedersehen würde.

Als mich Herr Manfred Teuben um meine Zustimmung zu dem »Buchprojekt Calossi« gebeten hat, habe ich den Vorschlag sehr gerne angenommen; ja, die Wertschätzung, die meiner bescheidenen Arbeit so zu Teil wurde, hat mir eine große Freude bereitet.

Die erste Auflage der »Anmerkungen« in italienischer Sprache war beinahe zufällig entstanden. 1986 fand in Florenz ein Kongress über das Schicksal der italienischen Militärinternierten in Deutschland statt. Bei diesem Anlass bedauerte Professor Rochat, Leiter des Historischen Seminars an der Universität Turin, u. a. die Tatsache, dass nur sehr wenige Unteroffiziere und einfache Soldaten über ihre Gefangenschaft in Deutschland geschrieben hatten. Diese Bemerkung des Gelehrten regte mich dazu an, mein eigenes Schicksal zu überliefern, meine persönliche Odyssee zu erzählen. Instinktiv hielt ich es für angemessen, meinen Bericht so vollständig wie möglich zu gestalten und mich nicht auf tadelnswerte Episoden zu beschränken. So entstand also die detaillierte Geschichte darüber, wie ich Italien 1941 von Brindisi aus verließ und wie ich 1945 über den Brenner dahin zurückkehrte, nach einer Irrfahrt über den halben Kontinent. Ich hielt es auch für sachdienlich und wichtig zu erklären, warum ich am 8. September 1943 in Albanien war, wie ich durch die deutschen Truppen gefangen genommen und in die Lager der Nazis deportiert wurde und welche Arbeit mir beinahe zwei Jahre lang auferlegt wurde.

Über die Internierung von 600.000 italienischen Soldaten, von denen 40.000 nicht nach Hause zurückkehrten, ist eine ziemlich episodenhafte Literaturproduktion entstanden, die beinahe ausschließlich die unmenschliche Behandlung thematisiert, die einem ganzen in Ungnade gefallenen Heer zu Teil wurde, einer ungeheuren Menge junger Menschen in der Blüte ihrer Jahr, die sich einzig der Tatsache schuldig gemacht hatten, mit »Nein« auf die eindringlichen Aufforderungen, der Repubblica Sociale Mussolinis beizutreten, geantwortet und so einen ersten Akt des »Widerstandes« gegen die aufgezwungenen antidemokratischen Ideologien geleistet zu haben, gegen die sogenannte »neue Ordnung«.

Ich halte die Initiative, meine »Anmerkungen« in Ihre Sprache zu übersetzen, für äußerst lobenswert. Meine Anerkennung gilt Herrn Klaus Hofmann und seiner Gruppe. Sie haben ihre Arbeit mit viel emotionaler Anteilnahme und mit Leidenschaft durchgeführt, in dem ehrenwerten Vorsatz, einen dramatischen und erschütternden Abschnitt der Geschichte zu erinnern und bekannt zu machen.

Von dem Enthusiasmus, mit dem seine Gruppe das Projekt vorangetrieben hat, konnte ich mich am 26. Mai 2002 überzeugen, als wir uns in Florenz trafen, um gedanklich in die dunklen und traurigen Jahre des Krieges zurückzukehren. Wir haben von der Internierung in den Lagern, der Zwangsarbeit, den unmenschlichen Leiden, der Aufhebung moralischer Werte, dem Entzug von Freiheit und von der mit Füßen getretenen Menschenwürde gesprochen. Daher sage ich Herrn Hofmann und seinen Freunden Dank dafür, diejenigen zu Wort kommen zu lassen, die das ungünstige Schicksal besiegt hatte.

Leonardo-lchelndDie Zeit vergeht, doch noch heute habe ich lebendige Erinnerungen an die zwischen Gitterzäunen verbrachten Tage vor Augen. Ich sehe mich wieder gegen den heimtückischsten aller Feinde kämpfen, den Hunger. Ich sehe mich wieder als Person zu Grunde gerichtet, missbraucht, erniedrigt. Ich sehe mich wieder wehrlos, zur völligen Machtlosigkeit gegen eine solche Degradierung verurteilt. Ich höre wieder das Klappern der Viehwaggons während der unendlichen Reise durch halb Europa. Angesichts der ungewissen Zukunft hatte ich mir ein einziges Ziel gesetzt: die Gefangenschaft um einen Tag zu überleben, um zu meiner geliebten Familie, in meine Heimat zurückkehren zu können.

Die Gesundheit verschlechterte sich in beängstigendem Maße, ich fürchtete das Schlimmste. Aber, so seltsam das auch scheinen mag, ich hatte weniger Angst vor dem befreienden Tod als vor der beklemmenden Idee, als anonymer Körper in ein Massengrab geworfen zu werden, ohne Erinnerung und ohne geistlichen Beistand. Ich muss zugeben, dass ich vom Wohlwollen des Schicksals, aber vor allem auch von einem starken Körper und einem festen Lebenswillen aufrecht erhalten wurde.

Heute, nachdem der Nachhall der Katastrophe abgeklungen ist, können wir in Ruhe und Frieden und mit größerer Ursachenkenntnis über das nachdenken, was geschehen ist, über den Sturm, der über uns hinweggefegt ist, diesseits und jenseits der Barrikade.

Man sagt, die Geschichte sei eine Lehrmeisterin. Nun, wenn sie tatsächlich Lehrerin für unsere Zukunft ist, machen wir die furchtbare Lektion, die sie uns in jenen Jahren des kollektiven Wahnsinns erteilt hat, zu unserem geistigen Besitz! Gehen wir guten Mutes und mit Verantwortungsbewusstsein, mit Achtung vor dem Menschen - vor einem jeden Menschen, mit Gerechtigkeitssinn und Liebe ans Werk und lassen wir die Begabung des Menschen erstrahlen, jenes denkenden Wesens, das zum moralisch und materiell Guten tendiert!

Ich habe die Odyssee der Gefangenschaft in den Lagern und den Arbeitslagern nicht vergessen, aber in mir sind weder Hass noch Rachegefühle, auch wenn ich an die 40.000 Landsleute denke, die elend zugrunde gegangen sind und an Tausende junger Menschen, die nach ihrer Rückkehr in die Heimat allzu früh verstorben sind, hingestreckt von den Krankheiten, die sie sich an den traurigen Orten zugezogen hatten.

Die Geschichte selbst beobachtet und verzeichnet gewissenhaft jede Tat, ohne irgend etwas auszulassen: sie rühmt Heldentaten, verurteilt Untaten und unvorstellbare Grausamkeiten. Ich denke, dass es richtig ist, die dramatischen Ereignisse bekannt zu machen, die so viele vom Begriff der Ehre getriebene junge Menschen erleiden mussten, welche sich an den geschworenen Eid hielten.

Mein Alter – 89 Jahre sind nicht wenige – erlaubt mir, die Geschehnisse auf der Welt von oben zu betrachten, objektiv die täglichen Ereignisse zu bewerten. Aber ich bin ruhig, und ich wünsche diese Ruhe einem jeden von Ihnen, wie ich Ihnen allen Glück und Zufriedenheit durch Erfolge wünsche.

Ich möchte Sie herzlich grüßen und Ihnen nochmals dafür danken, meiner Schrift Aufmerksamkeit geschenkt zu haben, vor allem aber dafür, mich in das verdienstvolle Unternehmen einbezogen zu haben, das nicht ins Vergessen geraten zu lassen, was eines Tages geschehen ist.«